Stadt- und Geschlechtergeschichte – eine detektivische Forschungssuche
Shownotes
Die heutige Geschichtsforschung liefert Einblicke, was vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden passiert ist. Sie beantwortet erstaunlich viele Fragen dazu, wie Menschen im Mittelalter innerhalb der früheren Stadtmauern zusammenlebten, welchen Regeln sie unterworfen waren und wer Macht über andere ausüben konnte. Aber wie kann das sein? Wie kann man heute viele hundert Jahre in die Vergangenheit blicken – und verlässliche Aussagen treffen? Unter anderem darauf gibt Frau Professorin Nina Gallion Antworten in dieser Podcast-Folge.
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Moderator: Lawrence Meinig
Mehr zum Thema unter folgenden Links: Forschungspofil der Johannes Gutenberg-Universität Mainz [Professorin Nina Gallion] (https://vergleichendelandesgeschichte.geschichte.uni-mainz.de/nina-gallion/)) Forschungspodcast
Transkript anzeigen
00:00:06: Die heutige Geschichtsforschung liefert Einblicke, was vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden passiert ist.
00:00:13: Sie beantwortet erstaunlich viele Fragen dazu, wie Menschen im Mittelalter innerhalb der früheren Stadtmauern zusammenlebten, welchen Regeln sie unterworfen waren und wer Macht
00:00:22: über andere ausüben konnte.
00:00:25: Aber wie kann das sein?
00:00:27: Wie kann man heute, viele hundert Jahre in die Vergangenheit blicken und verlässliche Aussagen treffen?
00:00:34: Minds of Mainz – Der Gutenberg Talk.
00:00:37: Ein Forschungspodcast der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
00:00:43: Herzlich willkommen zum Forschungspodcast der JGU.
00:00:47: Mein Name ist Lawrence Meinig und ich freue mich sehr, Sie durch das Format zu führen.
00:00:51: In dieser Podcastreihe eröffne ich Ihnen das Tor zur Welt der Wissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
00:00:57: Ich nehme Sie mit auf eine Entdeckungsreise zu den unterschiedlichsten Disziplinen und deren wissenschaftlichen Themen und Fragestellungen.
00:01:04: Gemeinsam lernen wir die Forschenden der Universität kennen.
00:01:08: Wie arbeiten sie und welche Erkenntnisse gewinnen sie?
00:01:12: In dieser Folge spreche ich mit Professor Nina Gallion über ihre Forschung.
00:01:16: Sie ist Professorin für spätmittelalterliche Geschichte und vergleichende Landesgeschichte.
00:01:22: Zentrale Themen für sie sind dabei etwa Stadtgeschichte und Geschlechtergeschichte mit dem Schwerpunkt auf Südwestdeutschland und Schleswig-Holstein.
00:01:30: Da wir heute über das Spätmittelalter sprechen, bewegen wir uns zwischen der Mitte des 13.
00:01:35: und Anfang des 16.
00:01:37: Jahrhunderts.
00:01:40: Hallo Frau Professor Gallion, schön, dass Sie dabei sind.
00:01:42: Hallo.
00:01:43: Sie sind nicht nur Professorin für Spätmittelalterliche Geschichte, sondern auch für Vergleichende Landesgeschichte.
00:01:49: Was kann ich mir als Außenstehender denn vorstellen von Vergleichender Geschichte?
00:01:53: Was wird da verglichen?
00:01:54: Also wenn man üblicherweise sagt, man vergleicht nicht Äpfel und Birnen miteinander, gibt es in der Geschichtswissenschaft keine Grenzen.
00:02:02: Es gibt Themen, die naheliegender sind, sie miteinander zu vergleichen.
00:02:07: Wenn ich etwa zum Bauernkrieg, der ja dieses Jahr sein großes Jubiläum feiert, von 1525, zwei Chroniken miteinander vergleiche, dann erscheint das vielleicht naheliegender, als
00:02:18: wenn ich einen Vergleich ziehe zwischen dem mittelalterlichen Köln und dem heutigen New York.
00:02:24: Aber grundsätzlich sind beide Vergleiche absolut zulässig.
00:02:27: Wenn Sie aber mit einem speziellen Thema daran gehen, also zum Beispiel nach den politischen Verhältnissen fragen oder nach den sozialen Verhältnissen, dann können Sie
00:02:37: auch bei einem solchen Vergleich, der nicht unbedingt auf der Hand liegt, zu dem Ergebnis gelangen, dass es bestimmte epochale und vielleicht auch räumliche Spezifika gibt.
00:02:46: Also der Vergleich ist eine sehr gebräuchliche Methode innerhalb der Geschichtswissenschaft.
00:02:51: Wollen Sie uns vielleicht ein Beispiel geben, was Sie bisher miteinander verglichen haben?
00:02:56: Ich habe jetzt eine Professur für Vergleichende Landesgeschichte im Speziellen und dieses Landesgeschichte legt nahe, dass es vor allem um den Vergleich von Räumen miteinander geht.
00:03:06: Die Landesgeschichte hat in ihrer Tradition den Ansatz, dass sie sehr stark von territorialen Zuschnitten ausgeht, also heutige Bundesländer zum Beispiel oder die
00:03:16: einzelnen territorial … Länderterritorien des römisch-deutschen Reiches im Mittelalter etwa, aber heutzutage
00:03:23: geht man nicht mehr so rein politisch oder territorial nur allein vor, sondern kann im Grunde jede Art von Landschaft miteinander vergleichen.
00:03:32: Und an dieser Region stellt man gewisse Fragen, die man dann im Vergleich insofern klären kann, als man dann zum Beispiel sieht in Schleswig-Holstein, wo ich mich auch längere Zeit
00:03:43: aufgehalten habe, dort gibt es ganz andere Verhältnisse und ganz andere Rahmenbedingungen, die zum Beispiel im Spätmittelalter wichtig waren,
00:03:51: als es hier im Mainzer Raum der Fall ist.
00:03:54: Wenn wir dort ins 15.
00:03:55: Jahrhundert etwa reinschauen, dann finden wir die Dynastie der Schauenburger, die dort als Grafen von Holstein regieren.
00:04:03: Wenn wir jetzt unseren Blick in ganz anderen Raum richten, hier zum Beispiel in die Mainzer Region, da befinden wir uns im Mainzer Erzstift, also im Herrschaftsbereich des
00:04:12: Mainzer Erzbischofs, der das gesamte Mittelalter über einer der mächtigsten Fürsten im Reich ist,
00:04:19: zu den sieben Kurfürsten zählt, also einer derjenigen ist, die die Könige wählen im Mittelalter.
00:04:25: Jetzt haben wir es also mit einem Erzbischof zu tun, mit einem geistlichen Fürsten, im Gegensatz zu den Schauenburgern oder den Oldenburgern, die weltliche Fürsten sind.
00:04:35: Und hier haben wir jetzt auf einmal ganz andere Rahmenbedingungen, denn ein Erzbischof wird gewählt von anderen Geistlichen.
00:04:41: Wir haben also ganz häufig keine dynastische Kontinuität, wo einfach der Sohn auf den Vater nachfolgt,
00:04:48: sondern es sind ganz andere Rahmenbedingungen, ganz andere Parameter, die sich auch anders auf die Geschichte dieses Raumes auswirken.
00:04:57: Sie haben mir jetzt auch schon das perfekte Stichwort für meine nächste Frage gegeben, denn wie Sie gerade selber schon erwähnt haben, während Ihrer bisherigen Zeit als
00:05:05: Forscherin haben Sie an verschiedenen Universitäten zu regionaler Geschichte geforscht, unter anderem in Mainz, in Kiel und eben auch in Köln.
00:05:13: Und zusätzlich haben Sie auch an anderen Universitäten wie Heidelberg und Greifswald zum Spätmittelalter geforscht.
00:05:19: Für mich
00:05:20: klingt das jetzt total anspruchsvoll, sich an verschiedenen Standorten immer wieder in lokale Geschichte mit ihren jeweiligen Einzelheiten, Kleinteiligkeiten einzuarbeiten?
00:05:30: Wie haben Sie das erlebt?
00:05:31: Funktioniert das für Sie einfach so gut?
00:05:33: Das ist herausfordernd in der Tat, weil jeder Raum seine eigenen Bedingungen hat, eigene Geschichte hat, in die man sich zuerst einfinden muss, für die man auch ein gewisses
00:05:42: Gespür finden muss, indem man sich einliest, indem man das natürlich auch in die Lehrveranstaltungen einbringt, mit den Studierenden darüber spricht, Vorträge darüber
00:05:51: hält.
00:05:52: Aber darin liegt natürlich auch der besondere Reiz, weil erst wenn man verschiedene Landschaften und verschiedene Regionen kennengelernt hat, dann kann man überhaupt erst
00:06:01: einschätzen,
00:06:02: was einzigartig ist an einer bestimmten Region, ob es überhaupt so etwas wie Einzigartigkeit gibt oder ob vielmehr sich zwar vielleicht die Namen und die Personen und
00:06:13: die Ereignisse und die Orte ändern, aber am Ende die Einflussfaktoren, die sich auswirken auf das Ganze, ob die nicht gleich sind oder zumindest so vergleichbar, dass, wenn man sich
00:06:26: die beiden Räume gegenseitig vor Augen hält, dann zu bestimmten Schlüssen kommt,
00:06:30: dass zu bestimmten Zeiten bestimmte Einflussfaktoren wichtiger sind als andere.
00:06:35: Faszinierend. Letztlich haben sie sich für die Professur in Mainz entschieden.
00:06:39: Natürlich forschen Sie nicht nur zur regionaler Geschichte, aber mich interessiert trotzdem, ob Mainz für HistorikerInnen vielleicht besonders interessant ist?
00:06:48: Das kann ich definitiv bejahen, auch wenn ich jetzt vielleicht voreingenommen bin, weil ich natürlich hier in Mainz lehre und schon qua Amt mich natürlich sehr für Mainz
00:06:59: interessieren muss, aber das auch sehr gerne tue, weil Mainz im Mittelalter meines Erachtens ein sehr zentraler Ort war. Ein Hotspot, an dem sich ganz viel ereignet hat.
00:07:09: Allein wenn wir in die Mainzer Stadtgeschichte des Mittelalters blicken, ist sie so abwechslungsreich,
00:07:14: dass man also wirklich im Grunde jedes Thema, das man sich aus der Stadtgeschichte vorstellen kann, sehr gut anhand von Mainz behandeln kann.
00:07:22: Wir haben Phasen, in denen wir Mainz als Kathedralstadt des Erzbischofs erleben können.
00:07:28: Im späten Mittelalter gelingt es Mainz, sich von seinem Stadtherren weitestgehend frei zu machen und als sogenannte freie Stadt dann eine sehr große Autonomie zu entfalten, was
00:07:39: auch mit großem Reichtum einhergeht, auch mit großem Bevölkerungsreichtum
00:07:44: tatsächlich. Und im späten Mittelalter geschieht die große Mainzer Katastrophe, wie sie oft in der Forschung beschrieben wird, als nämlich der Erzbischof mit Pauken und Trompeten
00:07:55: zurückkehrt in seine Kathedralstadt und die Herrschaft im Zuge der sogenannten Mainzer Stiftsfehde wieder an sich reißt.
00:08:03: Und allein durch diese wechselvolle Stadtgeschichte, durch diese vielen Auf und Abs hat man also schon so,
00:08:09: ja, ein gewisses Drama bei all dem, mit dem man sich beschäftigen kann, dass allein das schon viel Spaß macht.
00:08:16: Man darf ja auch nicht vergessen, dass in Mainz die erste demokratische Bewegung Deutschlands stattgefunden hat, ein paar Jahrhunderte später.
00:08:24: Also heute kein Thema für uns.
00:08:25: Wir möchten uns heute aber auch vor allem mit der Stadtgeschichte im Spätmittelalter beschäftigen.
00:08:30: Sie sind Teil einer Forschungsgruppe, die sich mit dem Herrschaftswechsel als Herausforderung für urbanes Zusammenleben beschäftigt.
00:08:37: Vielleicht möchten Sie uns zuerst eine kleine Einführung in dieses urbane Zusammenleben in der Zeit geben, wie
00:08:45: können wir uns das vorstellen?
00:08:47: Wenn man sich mit dem urbanen Zusammenleben beschäftigt, dann muss man eigentlich zuerst die Frage stellen, warum es im Mittelalter überhaupt zu so vielen Städten kommt, als
00:08:57: Ausgangspunkt des Ganzen.
00:08:59: Denn es ist schon bemerkenswert, dass gerade im Spätmittelalter so ein regelrechter Boom entsteht und in wenigen Jahrzehnten Tausende von Städten praktisch aus dem Boden wachsen.
00:09:10: Das können wir darauf zurückführen, dass die Städtegründer,
00:09:15: die verschiedenen Landesherren, ein großes Interesse daran haben, die Vorteile, die dieses Modell der Stadt bietet, auszunutzen.
00:09:23: Man hat einen befestigten Ort, könnte man sagen, das hatte man mit den Burgen auch schon, aber jetzt wissen wir, Burgen liegen meistens oben.
00:09:31: Städte kann man hingegen an ganz anderen Verkehrslagen gründen, die sich dann etwa auch auf den Handel günstig auswirken.
00:09:38: Und wenn der Handel in der Stadt floriert, kann der Stadtherr auch gewisse Einnahmen aus dieser Stadt beziehen.
00:09:44: Jetzt macht eine solche Stadt natürlich erst Sinn, wenn dort auch Menschen leben.
00:09:48: Das ist klar.
00:09:49: Wie kann ein solcher Stadtherr das schaffen?
00:09:51: Er schafft Anreize.
00:09:53: Er bietet etwas an, damit die Leute sich überhaupt in dieser Stadt ansiedeln.
00:09:58: Und den Anreiz, den wir am häufigsten finden, der sehr bekannt ist, ist der der besseren rechtlichen Stellung.
00:10:04: Es gibt das geflügelte Wort "Stadtluft macht frei".
00:10:07: Das lässt uns jetzt sehr vielleicht an unseren heutigen Freiheitsbegriff denken.
00:10:11: Eine solche absolute Freiheit ist damit nicht verbunden.
00:10:15: Auch der mittelalterliche Stadtbürger und die Stadtbürgerinnen sind immer noch unfrei, aber sie haben eine bessere rechtliche Stellung, als es bei den Menschen auf dem Land der
00:10:25: Fall ist.
00:10:26: Ein anderer Anreiz ist eine bessere wirtschaftliche Entfaltung, die man möglicherweise in dieser Stadt machen kann,
00:10:33: weil dort die Handelsströme besser durchfließen, als das jetzt vielleicht auf den kleineren Dörfern auf dem Land der Fall ist.
00:10:40: Und wenn wir jetzt eine solche Ansiedlung von Menschen haben, dann stellt sich die Frage, wie schafft man es denn jetzt, dass diese vielen Menschen an einem Ort zusammenleben und
00:10:51: das einigermaßen reibungslos tun können?
00:10:54: Das ist zum Beispiel eine der Ausgangsfragen, mit der wir uns im Rahmen des Großprojekts Challenges, zu dem ich auch zähle, beschäftigt haben und dort innerhalb unserer thematic
00:11:05: area der urbanen Verdichtung, die sich eben genau mit dieser Frage befasst,
00:11:10: eine Siedlung wird immer größer.
00:11:12: Wie leben die Menschen dort zusammen?
00:11:15: Man kann nach der herrschaftlichen Organisation fragen.
00:11:18: Und mit der Zeit können wir feststellen, dass je nachdem, wie groß diese Stadt sich entwickelt,
00:11:23: die Autonomie der Städte zunimmt. Die Städte zum Beispiel so etwas wie einen Rat ausbilden, der dann sehr viel stärker die Bevölkerung tatsächlich repräsentiert,
00:11:33: vielleicht das Amt des Bürgermeisters entsteht und vielleicht sogar eines Tages der Stadtherr im Grunde in seinen herrschaftlichen Rechten ganz abgelöst wird von dieser
00:11:44: kommunalen Verfassung.
00:11:49: Professor Gallion hat bereits wichtige Entwicklungsfaktoren für das Zusammenleben einer Stadt beschrieben.
00:11:56: Aber welche anderen Beispiele solcher Faktoren gibt es für das Zusammenleben in den Städten?
00:12:02: Einerseits haben Handel und Handwerk das Leben vieler Menschen bestimmt.
00:12:07: Auf dem Wochenmarkt wurden Waren aus dem Umland gehandelt, die zur Versorgung der Stadt notwendig waren.
00:12:13: Der Jahrmarkt wiederum war relevant für Händler, die von weit her kamen
00:12:18: und spezialisierte Waren anbieten konnten.
00:12:21: Verschiedene Handwerksberufe haben sich in Städten zu Zünften zusammengeschlossen, in denen Regeln und Preise für das jeweilige Handwerk festgelegt wurden.
00:12:31: War man kein Mitglied dieser Zunft, durfte man seine Profession nicht ausführen.
00:12:37: Andererseits waren auch in der Stadt viele Menschen in der Landwirtschaft tätig und haben beispielsweise Felder außerhalb der Stadtmauern bewirtschaftet.
00:12:47: Auch die Verteidigung der Stadt gegen Angreifer sowie die Feuerwehr wurden von den Städtern selbst organisiert und als bürgerliche Pflichten angesehen.
00:12:57: Es ist bei all dem noch hinzuzufügen, dass wir uns, wenn wir über urban sprechen, natürlich nicht die heutige Großstadt vorstellen dürfen.
00:13:06: In den allermeisten Fällen, und das sind also sicherlich 95 Prozent aller Fälle, haben wir Kleinstädte.
00:13:13: Und diese Kleinstädte meinen im späten Mittelalter eine Bevölkerungsgröße von vielleicht 200 bis 2000 Menschen.
00:13:22: Also das sind im Grunde Dörfer in unserer heutigen Vorstellung.
00:13:25: Aber für das Mittelalter ist das im Grunde die Form, in der sich städtisches Leben abspielt.
00:13:33: Sie hatten ja vorhin jetzt auch schon diese Herrschaftswechsel angesprochen, zum Beispiel mit dem Erzbischof, der dann zurück nach Mainz gekommen ist.
00:13:41: Und wie beeinflussten diese Herrschaftswechsel damals dieses Zusammenleben?
00:13:45: Vielleicht können Sie uns auch ein Beispiel aus Mainz geben.
00:13:48: Wenn wir auf das Beispiel Mainz blicken, haben wir tatsächlich ein sehr spannendes vor uns.
00:13:52: Denn als der Mainzer Erzbischof im 15.
00:13:54: Jahrhundert, da sind wir so um das Jahr 1462, in seine Stadt Mainz zurückkehrt, die er, obwohl er schon seit vielen Jahren gar nicht mehr als Stadtherr dort anerkannt wird, nach
00:14:06: wie vor als seine Stadt betrachtet, macht er eine ganze Reihe von Maßnahmen, die sich sehr drastisch auf die Bevölkerung von Mainz und auf das Zusammenleben in der Stadt auswirken.
00:14:18: Weil er sich diese Rückkehr sehr hat erkämpfen müssen, auch gegen die Stadt und ihre Bevölkerung hat erkämpfen müssen, verband er eine ganze Reihe von wichtigen Leuten aus der
00:14:29: Mainzer Stadtgesellschaft.
00:14:31: Dabei handelte es sich um weite Teile der sogenannten Patrizier, also der High Society, wie wir heute vielleicht sagen, der wichtigsten Menschen, die daraufhin sich in andere Städte,
00:14:41: etwa in Oppenheim oder auch an andere Orte, begeben und sich dort erst mal längere
00:14:46: Zeit aufhalten müssen, bevor sie nach Mainz zurückkehren dürfen, wenn sie es überhaupt dann noch tun.
00:14:52: Und ein solcher Bevölkerungsschwund, gerade auch solcher Menschen, die ja mit einem gewissen Vermögen ausgestattet sind und die vielleicht vorher auch einen gewissen
00:15:01: politischen Einfluss ausgeübt haben, das hat natürlich große Auswirkungen auf die Stadt selbst.
00:15:07: Der Bischof installiert einen eigenen Vertreter,
00:15:11: was natürlich das urbane Zusammenleben insofern beeinflusst, als von der vorherigen Autonomie, die die Gemeinde ja bislang gewohnt war, nun nicht mehr viel übrig ist, sondern
00:15:21: jetzt gibt es wieder einen starken Mann des Erzbischofs, der jetzt das Regiment in den Händen hält und das zementiert der Erzbischof auch noch damit, dass er die sogenannte
00:15:32: Martinsburg, das ist der Vorgängerbau des heutigen Mainzer Schlosses, errichten lässt.
00:15:38: Und das ist natürlich im Grunde so das Zeichen, das sich an alle richtet.
00:15:44: Ich bin jetzt wieder hier.
00:15:45: Das ist meine Burg, die euch jetzt hier beherrscht.
00:15:48: Und ihr werdet mich auch nicht mehr los.
00:15:50: Ich nehme mal an, dass gerade wenn dann auch so viele dieser Patrizier, wie Sie sie genannt haben, die Stadt verlassen, dass damit ja auch so Arbeitsplätze verloren gehen,
00:15:58: die vielleicht vorher geschaffen wurden durch Personen, oder?
00:16:01: Damit müssen wir rechnen, dass das starke wirtschaftliche Einflüsse hat.
00:16:05: Jetzt geht der Erzbischof natürlich durchaus so vor, dass er dafür andere Bevölkerungsgruppen bevorzugt, natürlich eine Art von Ausgleich einzurichten, damit die
00:16:16: Stadt auch weiterhin lebensfähig bleibt.
00:16:18: Aber wir müssen uns hier auf jeden Fall einen sehr starken Einschnitt in der Stadtgeschichte in jeder Hinsicht vorstellen.
00:16:25: Wir haben ja jetzt bisher natürlich vor allem über Tätigkeiten gesprochen, die von Männern ausgeübt wurden.
00:16:30: Aber Sie forschen auch sehr viel zur Geschlechtergeschichte, explizit zum Spätmittelalter.
00:16:35: Welche Rolle kam denn den Frauen damals in dieser ganzen Dynamik, wie Sie sie beschrieben haben, zu?
00:16:41: Grundsätzlich müssen wir für das Mittelalter davon ausgehen, dass wir es mit einer patriarchalischen Gesellschaft, mit einer männlich dominierten Gesellschaft zu tun haben,
00:16:50: bei der Frauen mit vergleichsweise wenig Rechten ausgestattet sind.
00:16:55: Natürlich gerade wenn wir es mit der heutigen Zeit vergleichen, wir können feststellen, dass Frauen etwa immer einen rechtlichen Beistand brauchen, also im Grunde sich nicht
00:17:04: selbst rechtlich vertreten können.
00:17:07: Aber, und das ist vielleicht das besonders Spannende, das sind nur
00:17:11: die Normen, die uns begegnen in den Quellen.
00:17:14: Es ist eine ganz andere Frage, wie diese Normen tatsächlich ausgestaltet wurden und was etwa im Alltagsleben, im Zusammenleben passiert.
00:17:23: So können wir etwa feststellen, dass es durchaus Frauen gibt, die sich etwa im Bereich des Handels sehr hervortun.
00:17:30: Regelrechte Kauffrauen begegnen uns, wenn wir etwa den Blick nach Lübeck richten, wo das sogenannte Lübische Recht, das dort den rechtlichen Hintergrund bildet,
00:17:40: ganz andere Möglichkeiten für Frauen zulässt, die dort nämlich sehr wohl auch vor Gericht selbstständig auftreten dürfen.
00:17:47: Wir finden, wenn wir auf der anderen Seite in dem Bereich des Gewerbes und des Handwerks schauen, auch Zünfte, also Zusammenschlüsse, von Handwerkern und Handwerkerinnen, die sich
00:17:58: mit einem bestimmten Handwerk beschäftigen.
00:18:00: Wir finden solche Zünfte, die sehr weiblich dominiert sind.
00:18:04: Das haben wir etwa in Köln,
00:18:05: wo Teile der Textilherstellung – und da sprechen wir von so einem teuren Produkt wie Seide etwa – ganz in der Hand von Frauen liegen.
00:18:13: Also wir können allein in diesen wirtschaftlichen Bereichen feststellen, dass Frauen uns sehr viel aktiver erscheinen können, als wir das vielleicht vorher gemeinhin für die Zeit
00:18:24: des Mittelalters angenommen hätten.
00:18:26: Wenn wir den Blick eher in den Bereich der Herrschaft richten und etwa an den Adel denken, dann haben Frauen dort sehr stark die Rolle,
00:18:35: dass sie in der Regel den Nachfolger gebären sollen.
00:18:38: Das wäre also eher die Rolle der Ehefrau, vielleicht auch die Rolle der Repräsentantin nach außen.
00:18:44: Frauen sind zum Beispiel immer ganz gut in der Funktion, diplomatische Beziehungen zu unterhalten, Beziehungen zur Kirche etwa auch zu unterhalten und sich etwa als
00:18:55: Stifterinnen hervorzutun, sich etwa auch um das Totengedenken zu kümmern.
00:19:00: Also insofern sehen wir auch im Bereich der Herrschaft,
00:19:04: dass Frauen ihren Aufgabenbereich haben.
00:19:07: Und dann gibt es auch immer wieder einzelne, besonders spannende Persönlichkeiten an Frauen, die dann noch besonders hervortreten.
00:19:16: Wenn ich ein Beispiel geben soll, dann könnte ich etwa an jemanden wie Loretta von Sponheim denken, die eine Grafentochter aus dem 14.
00:19:25: Jahrhundert ist und schon sehr früh im Alter von, ich meine 23 Jahren Witwe wird,
00:19:32: und dann als Regentin für ihren Sohn einstehen muss, der einer der Grafen von Sponheim ist.
00:19:38: Also wir befinden uns so ungefähr auf dem Boden des heutigen Rheinland-Pfalz.
00:19:43: Diese Loretta macht das sehr tatkräftig, weil sie keinen Streit mit den umliegenden Nachbarn scheut und es ihr eines Tages sogar gelingt, Balduin von Trier, den mächtigen
00:19:54: Trierer Erzbischof, der zu der damaligen Zeit sicherlich vielleicht sogar der mächtigste Fürst des Reiches ist,
00:20:01: in einer ganz tapferen Situation gefangen zu nehmen, als der sich auf einer Schifffahrt durch ihr Territorium befindet und ihm daraufhin als Gefangener bei ihr auf ihrer Burg ihm
00:20:13: auch einige Zusagen und Vereinbarungen abzupressen.
00:20:17: Und das macht natürlich dann auch in der Forschung Spaß, sich mit solchen einzelnen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen.
00:20:25: Kleiner Wermutstropfen, den darf man nicht verheimlichen,
00:20:28: die Quellen uns häufig nicht so
00:20:30: stark Auskunft geben über das Handeln von Frauen, wie wir das vielleicht gerne hätten.
00:20:36: Denn häufig haben wir Quellen, die von Geistlichen etwa verfasst wurden, die einfach gar nicht so ein großes Interesse am Handeln von Frauen haben oder vielleicht auch bedingt
00:20:46: durch die Vorstellung, Eva als der Urmutter der Sünde, vielleicht sogar eher eine negative Haltung zu Frauen haben.
00:20:54: Man kennt das ja so ein bisschen aus so Historik-Romanen, dass Frauen dann irgendwie häufiger doch eine relativ große Rolle spielen können.
00:21:01: Und ich finde das sehr schön zu hören, dass man merkt, die Verantwortung war dann doch schon deutlich größer.
00:21:06: Was mich immer auch total fasziniert, ist zu fragen, bei so persönlicher Forschung, das ist ja Ihr täglich Brot, dass Sie sich damit beschäftigen,
00:21:14: und gibt es Lehren, die sie aus ihrer bisherigen Forschung zur
00:21:17: Geschlechtergeschichte gezogen haben, die Sie persönlich besonders fasziniert haben, wo Sie sagen: Mensch, das ist aber total spannender Aspekt.
00:21:26: Wenn ich ganz ehrlich antworte, bin ich selber immer so ein wenig skeptisch, was wir tatsächlich aus der Geschichte oder in diesem Fall aus der Geschlechtergeschichte lernen
00:21:34: können im eigentlichen Sinn, weil ich doch sehr stark die Andersartigkeit sehe des Mittelalters.
00:21:41: Und wenn überhaupt es sehr dazu anregen kann, die heutige Situation mit dem Mittelalter zu vergleichen und vielleicht noch umso mehr zu schätzen, welche Freiheiten wir heute
00:21:53: genießen können.
00:21:54: Ich darf sagen, welche Freiheiten ich als Frau auch gerade heute genießen kann.
00:21:58: Das ist natürlich im Vergleich mit mittelalterlichen Verhältnissen eine ganz andere Sache, wenn man sich das vor Augen hält, wie stark trotz aller schönen Beispiel, denen man
00:22:10: begegnet, wo Frauen doch ein vergleichsweise freies Leben führen konnten, wenn man also abgesehen von diesen … vereinzelten Beispielen doch auf die
00:22:21: Allgemeinheit der Frauen blickt und sich vor Augen halten muss, dass es ein Leben war, das im Wesentlichen vom Heiraten und vom Kinderkriegen geprägt war, dann ist dagegen natürlich
00:22:33: auch in der heutigen Zeit nichts zu sagen.
00:22:35: Aber es stimmt mich doch sehr froh, dass heute auch ganz andere Perspektiven möglich sind.
00:22:40: Jetzt haben Sie es gerade auch schon bisschen allgemeiner formuliert, das kommt mir entgegen.
00:22:44: Ich habe so eine ganz allgemeine Frage zur Geschichtsforschung, die mich auch persönlich immer wieder beschäftigt.
00:22:50: Ich höre und lese auch ganz gerne Geschichtsromane, wo man dann manchmal auch nicht so genau weiß, wie professionell wurde das jetzt geschrieben, so wie viele Einzelheiten sind
00:22:59: da jetzt so richtig.
00:23:00: Nach meinem Wissen ist es jetzt so, dass je weiter man in die Vergangenheit geht, desto weniger Primärquellen hat man ja und desto weniger Informationen hat man auch häufig, wie
00:23:09: das
00:23:10: Leben tatsächlich abgelaufen ist.
00:23:12: Und wenn Sie nun zu Zeiten wie das Spätmittelalter forschen, das jetzt um die 800 Jahre zurückliegt, mit welchen Quellen können Sie denn dann noch arbeiten, wo Sie sagen, die
00:23:22: sind total vertrauenswürdig?
00:23:24: Grundsätzlich ist zu sagen, dass spätmittelalterliche Quellen zum Glück sehr vielfältig sind.
00:23:30: Wenn man auf das Mittelalter insgesamt blickt, dann kann man sich im Spätmittelalter schon sehr glücklich schätzen, weil die Schriftlichkeit im Laufe des Mittelalters und da
00:23:38: sprechen wir ja von sage und schreibe rund 1000 Jahren, im Laufe des Mittelalters immer weiter zunimmt, sodass wir im Spätmittelalter durch verschiedenste Einflüsse bedingt
00:23:50: schon wirklich viel an Schriftlichkeit haben, was sich entsprechend auch auf die Überlieferung auswirkt.
00:23:56: Also wir haben heute sehr viel mehr spätmittelalterliche Überlieferung als etwa früh- oder hochmittelalterliche Überlieferung.
00:24:03: Wenn ich vielleicht ein paar Beispiele mache, dann denke ich zum Beispiel an Chroniken, mit denen ich viel arbeite, also sogenannte Geschichtsschreibungen, wo ein Autor, bei dem
00:24:14: wir nicht immer wissen, wie er heißt, bestimmte Zusammenhänge erläutert
00:24:19: für eine Region, für eine Stadt vielleicht, auch generell so etwas wie eine Universalchronik im Sinn hat und darin über bestimmte Ereignisse berichtet, über die wir
00:24:28: dann glücklicherweise etwas erfahren können.
00:24:32: Es gibt aber auch völlig anders geartete Quellen.
00:24:35: Ich beschäftige mich sehr viel mit den sogenannten Nekrologen.
00:24:40: Das sind Totenverzeichnisse, also Verzeichnisse Verstorbener, denen man entnehmen kann, was diese Verstorbenen
00:24:49: den jeweiligen geistlichen Institutionen, Klöster oder Stifte jeweils vererbt haben, um damit ihr Totengedenken zu sichern.
00:24:57: Also dass an ihrem Todestag dann zum Beispiel eine Kerze für sie angezündet wird oder eine Predigt gehalten wird.
00:25:04: Und das sind natürlich im Vergleich zu Chroniken völlig andere Quellen, weil die listenartig aufbereitet sind und im Grunde häufig aus Namen bestehen, Daten und vielleicht
00:25:15: noch ein paar Sätzen dazu, wenn man Glück hat.
00:25:18: Wenn wir in den Bereich der Stadtgeschichte blicken, dann können wir so etwas wie eine Steuerliste nennen.
00:25:22: Auch sehr interessante Quellen, die ähnlich wie die gerade erwähnten Nekrologe auch aus Personenlisten bestehen.
00:25:31: In der Regel Namen und dann stehen dahinter gewisse Zahlenwerte in der jeweiligen Währung, die dann aber natürlich als Steuerliste wieder einen ganz anderen Zweck erfüllen, nämlich
00:25:41: zum Ausdruck bringen, wie viele Steuern
00:25:44: der jeweilige oder die jeweilige zu zahlen hat, und vielleicht, wenn wir Glück haben, auch noch eine Auskunft darüber geben, wie hoch das Vermögen insgesamt eingeschätzt wurde.
00:25:55: Und an diesen sehr unterschiedlichen Beispielen kriegt man vielleicht schon einen kleinen Eindruck, wie groß die Vielfalt tatsächlich war.
00:26:03: Und wenn wir mit diesen vielfältigen Quellen umgehen möchten, dann ist Interpretation in der Tat sehr, sehr wichtig.
00:26:10: Wenn ich mich mit einer Chronik beschäftige, nennen wir vielleicht als Beispiel die sogenannte Bauernkriegschronik des Peter Hara.
00:26:18: Da sind wir beim Bauernkrieg des Jahres 1525, der gerade dieses Jahr sein großes 500-jähriges Jubiläum erlebt.
00:26:30: Der Bauernkrieg von 1525 war der größte Aufstand in Mitteleuropa vor der Französischen Revolution.
00:26:38: Ausgelöst wurde er durch soziale Ungleichheit, wirtschaftlichen Druck und die Reformation, die viele Bauern dazu ermutigte, auch ihre politischen und wirtschaftlichen Rechte
00:26:49: einzufordern.
00:26:51: Zehntausende Bauern erhoben sich gegen die Obrigkeit.
00:26:55: Sie forderten unter anderem die Abschaffung der Leibeigenschaft,
00:26:59: niedrigere Abgaben und mehr Mitspracherechte.
00:27:03: Anfangs organisierten sich die Aufständischen in sogenannten Haufen und konnten einige Erfolge erzielen.
00:27:11: Doch die Fürsten reagierten brutal.
00:27:14: In blutigen Schlachten wurden die Bauernheere besiegt, viele starben.
00:27:19: Kurzfristig scheiterte der Aufstand also und die soziale Ordnung blieb bestehen.
00:27:24: Teilweise wurde sie sogar verschärft.
00:27:28: Langfristig trug der Krieg dazu bei, dass sich gesellschaftliche Spannungen deutlicher zeigten und die Macht der Fürsten gegenüber Kirche und Bauern gefestigt wurde.
00:27:39: In dieser Bauernkriegschronik wird sehr viel über den Bauernkrieg, über die Konflikte, die mit den Bauern entstanden sind, berichtet.
00:27:48: Und es kann einen vielleicht überraschen, dass Peter Hara ein sehr harsches Urteil über diese Bauern fällt und sich sehr klar dazu äußert, dass das alles Verschwörer waren, denen
00:28:02: es auch Recht geschehen hat, dass viele davon am Ende umgekommen sind und getötet wurden.
00:28:08: Das ist ein Urteil, das zunächst mal vielleicht als modernen Menschen überraschen kann.
00:28:14: Wenn man sich aber genauer mit Peter Hara beschäftigt und wer er eigentlich ist, dann stellt man fest, dass er ein Schreiber des Pfalzgrafen bei Rhein, also eines der
00:28:24: Kurfürsten ist, der einen eigenen Kriegszug gegen diese Bauern geführt hat, und dass wir hiermit also einen Chronisten vor uns haben, der sehr stark die herrschaftliche
00:28:34: Perspektive wiedergibt.
00:28:36: Und das muss für die Interpretation natürlich berücksichtigt werden, denn wir dürfen daraus nicht schließen, diese Bauern, die waren alle im Unrecht und mussten bestraft
00:28:45: werden, sondern wir müssen dabei berücksichtigen, wer schreibt darüber, zu welchem Zeitpunkt und mit welchem Interesse.
00:28:52: Ich vermute, dass gerade diese Interpretation letzten Endes eine große Rolle spielt.
00:28:56: Es gibt ja auch diesen Spruch, Geschichte wird von Siegern geschrieben.
00:29:00: Das ist für Sie wahrscheinlich noch sehr viel bedeutsamer.
00:29:03: Ja, ganz recht, ganz recht.
00:29:04: Also das müssen wir auch unbedingt, wenn wir mit den Quellen umgehen, berücksichtigen, dass bestimmte Bilder in den Quellen geschaffen werden für uns aus einer bestimmten
00:29:14: Absicht heraus.
00:29:16: In der Tat sind es die Sieger, von denen die Quellen in der Regel übrig sind, und die sorgen natürlich, dass ihre eigene Erzählung, eigenes Narrativ dasjenige ist, das als das
00:29:27: Richtige wahrgenommen werden soll, während man von den Unterlegenen,
00:29:31: wenn wir beim Beispiel des Bauernkriegs bleiben, der Bauern, oft gar keine oder vielleicht nur ganz wenige Quellen haben, was es uns dann sehr schwer macht, deren Seite tatsächlich
00:29:43: überhaupt nachvollziehen zu können.
00:29:45: Und dann darf man nicht den Irrtum begehen, dass man sich so ganz in die Meinung dieser herrschaftlichen Perspektive stellt, sondern versucht, abzuwägen und im Grunde zwischen den
00:29:56: Zeilen zu lesen, um auch etwas über die Gegenseite und die Gegenperspektive zu erfahren.
00:30:01: Ja, richtige Detektivarbeit letzten Endes, nicht wahr?
00:30:04: Absolut. Das macht auch Spaß.
00:30:08: Das ist schön zu hören. Ich hatte jetzt schon mehrfach erwähnt, diese, diese Historien-Romane und es gibt da ja auch sehr bekannte Beispiele von Autorinnen und Autoren, die sich da sehr tief auch rein-.
00:30:18: knien.
00:30:19: Also mir würde jetzt in Deutschland zum Beispiel Frank Schätzing einfallen.
00:30:22: Der hat ja sehr viel auch über Köln geschrieben, einen sehr umfangreichen Roman, wo er dann in Interviews auch gesagt hat, dass er sehr kleinteilig sich da die Geschichte
00:30:29: angesehen hat.
00:30:30: Was halten Sie denn als Historikerin davon?
00:30:33: Können Sie sich sowas selber durchlesen und denken sich dann an manchen Stellen, ach Mensch, das ist jetzt nicht ganz so richtig.
00:30:39: Wie ist das für Sie?
00:30:40: Tatsächlich liebe ich historische Romane.
00:30:43: Ich lese sie nicht mehr ganz so häufig wie vielleicht früher noch, denn wenn ich dann zu einem Buch greife, dann denke ich mir manchmal, ich habe schon so viel Mittelalter jeden
00:30:52: Tag, es muss jetzt vielleicht nicht noch der historische Roman über das Mittelalter sein, aber ich schätze sie dennoch sehr und muss auch sagen, dass viele dieser Romane sehr gut
00:31:02: recherchiert sind, was die Rahmenbedingungen angeht, was das Einfangen des Zeitgeistes angeht.
00:31:09: Und man muss sich ja auch vor Augen halten, dass es bei den historischen Romanen darum geht, eine gute Geschichte zu erzählen.
00:31:16: Also ein wenig dichterische Freiheit muss erlaubt sein, ein wenig Dehnung vielleicht auch dessen, was historisch eigentlich den Tatsachen entspricht.
00:31:26: Damit kann ich persönlich gut umgehen und habe kein Problem damit, wenn ich mir eben die Intention dieser jeweiligen Schrift, dieses jeweiligen Romans vor Augen halte.
00:31:37: Als weiteres Beispiel könnte man auch Kinofilme anführen, die versuchen, das Mittelalter dann im Bild auch darzustellen.
00:31:45: Dort würde man sich manchmal wünschen, es wäre so gut recherchiert wie mancher historische Roman.
00:31:50: Aber auch da gelingt es wenigstens mir persönlich ganz gut zu sehen, dass es halt ein Film ist, der auch unterhalten soll, der natürlich ein bestimmtes Einspielergebnis haben soll.
00:32:02: Insofern bin ich für solche historischen Stoffe
00:32:06: sehr zugänglich und muss sogar sagen, das ist ja auch gut, diese Themen einem breiten Publikum nahe zu bringen durch eine Form, die auch interessant ist und unterhaltsam für
00:32:17: die Leute.
00:32:19: Mir ist es allemal lieber, Leute kommen auf diese Art mit Geschichte in Berührung und interessieren sich für die Stoffe, als dass wir gar nicht darüber sprechen.
00:32:28: Ich finde das ganz toll, ehrlich gesagt, dass Sie das jetzt auch so sagen, weil das auch mein persönliches Gefühl ist für mich selber.
00:32:34: Ich habe, glaube ich, den Großteil meines historischen Wissens aus solchen Büchern, weil ich einfach so was wirklich gerne lese und gerade wenn das dann so toll aufgearbeitet ist,
00:32:43: auch zu verschiedenen Epochen.
00:32:45: Das hat mich dann eben auch immer wieder fasziniert, wie kleinteilig dann doch erzählt werden kann und wie manche Autorinnen dann auch eben mit Namen von Personen sprechen, die
00:32:55: es tatsächlich gab.
00:32:56: Und dann einfach noch so eine Geschichte oder eine Familie da hineinweben, die dann eben erfunden ist, was dann eben den roten Faden erschafft.
00:33:05: Ich bin total großer Fan davon und bin froh, wenn Sie das für gut heißen.
00:33:09: Ja, Frau Professor Gallion, vielen Dank für Ihre spannenden Antworten.
00:33:12: Wir merken, das Spätmittelalter und historische Forschung hat was sehr Detektivisches an sich, was ich ganz toll finde.
00:33:20: Sehr gerne, ich bedanke mich auch für das nette Gespräch.
00:33:27: Das war mein Gespräch mit Professor Nina Gallion.
00:33:30: Zentral war für mich in dieser Folge, wie Historikerinnen und Historiker gesicherte Aussagen zu Ereignissen treffen können, die hunderte Jahre zurückliegen.
00:33:40: Nach Professor Gallion ist dabei nicht nur die damalige Geschichtsschreibung von Belang, sondern ebenso alle möglichen Aufzeichnungen, wie Nekrologe oder Steuerlisten.
00:33:51: Trotzdem müssen gewisse Aspekte durch Zusammenhänge interpretiert werden, um umfangreiche Aussagen treffen zu können.
00:33:58: Mich haben außerdem Professor Gallions Ausführungen zur Geschlechtergeschichte fasziniert.
00:34:03: Schon damals haben es manche Frauen geschafft, ihren auferlegten Geschlechterrollen zu trotzen.
00:34:08: Immer wieder gab es Beispiele, in denen sie in machtvolle Positionen aufsteigen konnten.
00:34:12: Dass wir diese Lebensläufe noch heute nachvollziehen können, finde ich schon bemerkenswert, insbesondere weil sie den damaligen, höchstwahrscheinlich männlichen
00:34:20: Geschichtsschreibern nicht gefallen haben dürften.
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